Aus dem grünen Schutzwald an der Küste wurde schnell ein riesiges Militärgelände
Schon seine bundesweit einzigartige Lage macht das gut 300 Hektar große Waldstück und viel besuchte Naherholungsgebiet zu einem recht ungewöhnlichen Ort in Deutschland. Der von dem hanseatischen Amtsverwalter und Politiker Charles Anthony Werner (1838-1891) im späten 19. Jahrhundert als Schutzzone gegen Sturmfluten und Überschwemmungen auf einem Heidegebiet künstlich angelegte und nach diesem benannte Forst vorrangig aus Kiefern ist einer von nur drei Nadelwäldern direkt an der deutschen Nordseeküste. Das bereits seit 1939 als Landschaftsschutzareal ausgewiesene Gelände auf dem Gebiet der westlich gelegenen Cuxhavener Stadtteile Arensch, Holte-Spangen und Sahlenburg weist neben dem Finkenmoor und einem Teich zusätzlich zahlreiche bei Touristen und Urlaubern beliebte Reit- und Wanderwege auf.
Überregional und international bekannt geworden ist der Wernerwald mit dem ursprünglichen Namen „Sahlenburger Revier“ jedoch nicht nur als landschaftlich reizvolles Ausflugsrevier, sondern auch als ein bereits ab 1892 intensiv von der kaiserlichen Marineartillerie genutztes Manövergelände. Seit 1912 wurde hier auf dem Schießplatz Altenwalde großkalibrige Schiffsmunition von Krupp-Schiffsgeschützen beim Schießen in das Sahlenburger Watt und die offene Nordsee erprobt.
Die Invasion fand nicht an der deutschen Nordsee, sondern in der Normandie statt
Im Ersten Weltkrieg betreuten die in der damals noch hamburgischen Ortschaft Altenwalde stationierten Truppen eine Batterie zur Abwehr feindlicher Schiffe. Schon 1933 wurden hier die ersten, noch einfachen Raketen jedoch eher erfolglos getestet. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs befanden sich an der Küste massiv bestückte Flak-Stellungen und Scheinwerferbatterien sowie eine Funkmessgerät-Anlage und eine Schießanlage für Handfeuerwaffen. Gegen Ende des Krieges im Jahr 1944, als die nationalsozialistische Führung in Berlin immer stärker von einem Invasionsversuch der Alliierten an der nahen Nordseeküste überzeugt war, wurden zur Abwehr des vermuteten Landungsversuchs zahlreiche Befestigungen, Schützengräben und Stellungen an der Küstenlinie errichtet.
Auch mehrere bis heute rudimentär als Ruinen erhalten gebliebene Abschussschleudern für die angebliche „Wunderwaffe für den Endsieg“, die V1-Rakete, wurde unter der Regie der hierfür aus Peenemünde abkommandierten Raketenforscher im Wernerwald und am Militärstandort Altenwalde erbaut. Nach der endgültigen deutschen Kapitulation Anfang Mai 1945 dauerte es nicht lange, bis britische Fachleute von der eigens zu diesem Zwecke gegründeten „Special Projectile Operations Group“ das Gelände in Beschlag nahmen, um Informationen und Erkenntnisse über das geheimnisvolle deutsche Raketenprogramm zu erlangen.
V1 und V2 standen technisch Pate für Apollo, Mercury, Saturn, Sojus und Wostok
Unter dem martialisch klingenden Namen „Operation Backfire“ versammelten die Briten im Wernerwald fast 1.000 deutsche Wissenschaftler, Ingenieure und Soldaten, um aus den vor Ort gefundenen, auch aus Zwangsarbeit im KZ Mittelbau-Dora stammenden Bauteilen die V1- und V2-Raketen zu rekonstruieren. Zum im Lagerkomplex, in der Küstenfunkstelle und im Schützenhaus untergebrachten, sog. „Versuchskommando Altenwalde“ zählten auch prominente deutsche Wissenschaftler und hochrangige Militärs wie Wernher von Braun und Walter Dornberger. Für deren Bewachung und vor allem für die notwendigen Bauarbeiten wurden ca. 2.500 britische Soldaten nach Altenwalde versetzt. Dabei war es im Vorfeld gar nicht so einfach gewesen, alle für die Konstruktion notwendigen Bauteile zu finden.
In ganz Europa waren Kommandos auf der Suche nach einzelnen Komponenten unterwegs, die dann mit 200 Lkws, 70 Flügen und 400 Güterwaggons nach Altenwalde bzw. in den Wernerwald gebracht wurden. Bis Juni 1945 konnten insgesamt drei Raketen gebaut und auch auf das offene Meer abgeschossen werden, Mitte Oktober 1945 waren bei einem der Tests sogar ca. 200 geladene Gäste anwesend. Unter diesen befanden sich viele namhafte US-amerikanische und sowjetische Raketenforscher, welche das deutsche Wissen kurze Zeit später für entsprechende eigene Militärprojekte in ihren Heimatländern effektiv nutzen konnten.
Seit Mitte der 1960er Jahre dient der Wernerwald endlich nur noch der Erholung
Auch nach dem Ende der „Operation Backfire“, dem Abbau der meisten Anlagen und der Sprengung der Bunker kam es im Wernerwald zu weiteren Raketentests, zunächst für rein zivile, dann auch wieder für militärische Zwecke. Seit 1952 hatten sich Raketentechniker und Schiffbauingenieure einer „Deutschen Raketengesellschaft e.V.“ (DAFRA) bemüht, das traditionsreiche Raketenversuchsgelände für ihre rustikalen Flugkörper wieder nutzen zu dürfen. Von August 1957 bis Mitte 1964 war die Gegend tatsächlich erneut Schauplatz von Raketenversuchen. Als jedoch im Sommer 1964 bei einem missglückten Raketenstart in Braunlage im Landkreis Goslar ein Junge ums Leben kam, wechselte die Stimmung in der Bundesrepublik, und auch die umtriebigen Raketentüftler in Cuxhaven bekamen keine Erlaubnis mehr für ihre Versuche. Seither hat sich der Wernerwald wie eingangs erwähnt zu einem bei der regionalen Bevölkerung populären Naherholungsgebiet entwickelt.